Vermieter auf der begehrten Urlaubsinsel Hiddensee sind eine eigene Gattung, dachte ich. Wie aus Frau Jungnickel „unsere Erika“ wurde, erzählt diese Geschichte. Dabei lief unser erster Kontakt alles andere als rund.
AUSZUG
Die Vorfreude auf den ersehnten Urlaub wich der Enttäuschung über die Ferienwohnung, die wir übers Internet bei ihr gebucht hatten. Wahrscheinlich waren wir überarbeitet und überreizt vom Großstadtleben. Jedenfalls schienen uns die Betten zu kurz, der Kühlschrank zu laut, die Bleibe zu eng. Nach der ersten mehr schlecht als recht verbrachten Nacht ließen wir über ihre Putzfrau anfragen, ob es eine Alternative gäbe.
Die junge Frau mit einem kleinen Hund vorn im Fahrradkorb fuhr als Botschafterin in schwieriger Mission hin und her. Frau Jungnickel ließ uns ausrichten, sie sei not amused, biete uns aber eine teurere Ferienwohnung zum gleichen Preis an. Bedingung: Wir sollten sie nehmen, ohne sie gesehen zu haben. Wir gingen das Risiko ein und wurden belohnt.

Geschirrspüler und Sonnenterrasse
Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet, hatte eine Sonnenterrasse und einen Geschirrspüler. Sie ist über all die Jahre, in denen wir in vielen von Erika Jungnickel für die Eigentümer betreuten Appartements unseren Urlaub verbrachten, immer unser Lieblingsplatz geblieben. Um unseren ersten schlechten Eindruck wettzumachen, kaufte ich im Supermarkt in Vitte eine schöne Pflanze und eine Dankeschön-Karte. An ihrem markanten Wohnhaus mit den blauen Dachziegeln stellte ich beides mit ein paar freundlichen Zeilen vor die Haustür. Gern hätte ich mich noch mal persönlich bei ihr bedankt. Aber ich bekam sie bei diesem Urlaub nicht zu Gesicht.
Unsere Erika
Umso überraschter war ich, als sie sich zu meinem ersten Schreibkurs, den ich 2019 im Gästehaus der Inselkirche anbot, als Teilnehmerin anmeldete. Es gab eine persönliche Geschichte, die sie schreibend loswerden wollte. Bei jedem Wetter kam sie morgens von Vitte nach Kloster herübergeradelt. Sie brachte Inselkolorit, ihr raues Lachen und einmal zum Feiern auch eine Flasche Hiddenseer Sanddornschnaps mit in den Kurs. Aus Frau Jungnickel wurde bald unsere Erika, die wir auch mit ihren Ecken und Kanten in unser Herz schlossen. (…) Als der Kurs vorbei war, schickte sie uns als Zeichen ihrer Freundschaft ihr Apfelkuchenrezept.

Kapitänin im Matrosenshirt
Erika Jungnickel wurde auf der Insel geboren. Sie machte Abitur und studierte in Greifswald Verfahrenschemie. Die Diplom-Chemikerin hatte eine Vorliebe für blau-weißgestreifte Shirts im Matrosenstil und war nach meinem Eindruck die Kapitänin im Familienunternehmen, das sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn betrieb.
Nach ihrer Teilnahme im Kurs waren wir so etwas wie gute Bekannte. Ich fand heraus, dass es ihr lieber war, wenn ich anrief statt unpersönlich per Mail den Urlaub zu buchen. Keinesfalls sollte ich mich aber abends melden, sondern am besten am Vormittag. Wenn ich Glück hatte, war sie persönlich am Apparat. Es konnte auch passieren, dass wir länger telefonierten. Sie wollte dann wissen, wie es uns in Berlin erging. Man merkte ihr an, dass sie selbst einmal weg war von der Insel und dass ihr das soete Laeneken zu klein werden konnte. Ich glaube, dass dies ihr Lebensrezept gewesen ist, als Insulanerin offen zu bleiben für alles, was jenseits von Hiddensee passierte – sonst wäre sie auch nicht in meinen Kurs gekommen.
Ihre Asche wurde im Meer verstreut
Wenn sie uns mit dem Fahrrad von der Fähre abholte, setzte ich ihr zuliebe meine Kapitänsmütze auf, die ich einmal im Kurs aus Spaß getragen hatte. Ich wusste, dass ich sie damit zum Lachen bringen konnte. Wenn sie uns nicht abholen konnte, dann schickte sie ihren Sohn Erik zum Hafen, der wie ein Fels in der Brandung bei den Bollerwagen stand bis alle anderen Urlauber abgeflossen waren.
(…)
Liebe Erika, wir werden dich und deine spröde Herzlichkeit bei unseren Inselbesuchen vermissen! Aber wir haben ja zum Glück dein (Lebens-)Rezept.

Erschienen in: „Hiddensee – Das Inselmagazin“, Ausgabe 2023/24, Herausgeberin Janet Lindemann, Verlagshaus Rügen-Druck
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