Erinnerungen an Radiofrau und Freundin Leslie Rosin

Wir lernten uns einen Tag nach Maueröffnung im linksalternativen Westberliner Radio 100 kennen. Sie war Studentin (West) und ich Studentin (Ost). Am 22. März 2024 ist meine kluge Freundin und leidenschaftliche Radiojournalistin kurz nach ihrem 55. Geburtstag in Köln gestorben. Ein Abschiedsbrief.

Meine liebe Leslie,

der Anlass unseres Kennenlernens ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Es war der Mauerfall 1989. Du warst Studentin in Westberlin und ich Studentin in Ostberlin. Die Geschichte des Beginns unserer Freundschaft haben wir am liebsten gemeinsam erzählt: Freunden, Fremden und zuletzt sogar der renommierten BBC.

Erstmal frühstücken!

Wie ich am 10. November 1989 das Radio eingeschaltet habe und hörte, dass die Mauer in der Nacht offen gewesen war und schon wieder geschlossen sein sollte. Dass ich ohne Frühstück und völlig durch den Wind zur Humboldt-Uni gefahren bin, die nahe des Grenzübergangs Friedrichstraße lag. Dass ich Massen in den Westteil hinüberströmen sah und mich ihnen einfach anschloss. Und dass ich nur ein Ziel kannte: das linksalternative Radio 100 in der Potsdamer Straße, das mein akustisches Zuhause war.

Dort angelangt, sah ich dich bei einem Gang durch die Räume am Kopierer stehen, weil du dort in der Studentenredaktion Radio 100.000 gearbeitet hast. Wir lächelten uns an und es war Liebe auf den ersten Blick. Du siehst so aus, als brauchst du erstmal ein Frühstück!, hast du gesagt. Und in deiner Studentenbude in der Großbeerenstraße in Kreuzberg konnte ich das erste Mal durchatmen.

radio100 Copyright: Radio 100 im Exil e.V.
Leslie sammelte ihre ersten Radioerfahrungen in der Studentenredaktion Radio 100.000
Alles nur geträumt?

Am Abend hast du dich vom Strom in die Gegenrichtung mitreißen lassen, obwohl man für die Einreise von West nach Ost noch ein offizielles Visum brauchte. Du hast bei mir auf der Ostseite in Friedrichshain im Nebenzimmer übernachtet. Und am nächsten Morgen habe ich nach dir gerufen: Leslie, bist du noch da – oder habe ich das alles nur geträumt? Zu deiner Lieblingspointe unserer Geschichte gehörte, dass du auf dem Rückweg von einem DDR-Grenzsoldaten herausgefischt wurdest und dein Ohr freilegen musstest, um den Abgleich mit dem Ausweisfoto zu bestehen.

Ich glaube, dass uns das immer verbunden hat: eine Neugier auf das Fremde und eine große Abenteuerlust. Darum sind wir wahrscheinlich auch Journalistinnen geworden.

Traueranzeige im "Tagesspiegel" von uns engen Freundinnen und Freunden im April 2024
Im „Tagesspiegel“ gaben wir als enge Freundinnen und Freunde im April 2024 ihren Abschied bekannt.
Von dir gelernt, wie man für das Radio schreibt

Als Juniorredakteurin beim SfB – dem damaligen Sender Freies Berlin – hattest du den Auftrag, junge Autorinnen an Land zu ziehen. Ich war stolz, dass ich in dieser Runde dabei sein durfte. Ich machte mit einer Co-Autorin meine erste lange Reportage – über die neue Berliner Salonkultur, woraus später ein Buch wurde. Obwohl wir befreundet waren, warst du eine strenge, fordernde und fördernde Redakteurin. Von dir habe ich gelernt, wie man akustisch denkt.

Zanzibar – Oder die Suche nach dem Glück, das sich Leben nennt

Leslies erstes Feature für den Hörfunk (SfB/MDR 1997) war richtungsweisend für ihr eigenes Leben.

Du hattest das Glück, dein Talent zum Beruf zu machen und warst eine leidenschaftliche Radiojournalistin. Egal mit wem ich in Berlin oder Köln über deine Arbeit gesprochen habe – wenn dein Name fiel, dann ging ein Leuchten durch den Raum. Autorinnen, Regisseure, Techniker oder Regieassistentinnen schwärmten von deiner fachlichen Kompetenz, deiner Freundlichkeit, deiner Wertschätzung auch und gerade jüngeren Kolleginnen und Kollegen gegenüber.

Du trautest dich, heiße Eisen anzupacken, von denen andere lieber die Finger ließen wie das Thema Kindesmissbrauch oder der digitale Umbau der Gesellschaft. Du hast gern gearbeitet und viel. Zehn-Stunden-Arbeitstage waren keine Seltenheit. Wenn du aus dem Büro müde nach Hause kamst, ging es oft nach der Tagesschau mit dem Lesen und Redigieren von Manuskripten weiter. Ich habe mich oft gefragt, wie du das schaffst.

Traueranzeige in der "Süddeutschen Zeitung" von Kolleginnen und Kollegen von WDR, Deutschlandradio und EBU im April 2024
In der „Süddeutschen Zeitung“ ehrten sie Kolleginnen und Kollegen von WDR, Deutschlandradio und der Europäischen Rundfunkunion EBU.
35 Jahre befreundet

Meine liebe Leslie, auch jenseits der Arbeit gibt es von den 35 Jahren unserer Freundschaft vieles, an das ich mich erinnere: unser erstes Silvester nach dem Mauerfall mit deiner Schwester Nicole in Friedrichshain auf dem ehemaligen Trümmerberg Mont Klamott. Dein WG-Zimmer mit der afrikanischen Decke über der Couch in der Schöneberger Stresemannstraße. Dein Urlaub in Tansania, aus dem du verliebt zurückkamst und über Yussuf sagtest: He makes me feel beauty! Eure erste Wohnung in Köln mit der gemütlichen Küchenecke und dein kleiner Sohn zu Karneval als Wolke verkleidet.

Dein Besuch bei mir in Rotterdam, wo ich mit einem Stipendium bei einer niederländischen Zeitung arbeitete. Damals warst du schwanger mit deiner Tochter – so haben wir indirekt zu dritt die große Hafenstadt erkundet. Unvergesslich dein Besuch mit beiden Kindern auf meiner Lieblingsinsel Hiddensee, wo wir deine hübsche Kleine im Bollerwagen hinter uns herzogen und sie das meistbewunderte Kleinkind der Insel war. Feiernd mit dir und meinem Mann auf der Kölner Stunk-Sitzung – meine einzige Begegnung mit dem Dreigestirn.

Unsere letzten Begegnungen

Natürlich wiegen im Moment die letzten Begegnungen mit Dir am schwersten. Im Januar 2023 war ich für eine Dienstreise in Köln und nach meiner Ankunft mit dir zum Abendbrot verabredet. Statt in deine Wohnung bin ich vom Hauptbahnhof direkt zu dir ins Krankenhaus gefahren. Damals hast du sehr ernst zu mir gesagt: Ich muss etwas für meine Work-Live-Balance tun! – und hast mich nach Tipps gefragt.

Im Juni dein letzter Besuch in Berlin. Wir waren im Treptower Park auf der Insel der Jugend und haben Eis am Stiel gegessen. Obwohl du immer belastbarer und robuster warst als ich, habe ich dich zum ersten Mal als zart und zerbrechlich wahrgenommen. Und bei meinem letzten Besuch bei euch im November habe ich dir angesehen, dass der Abschied nicht mehr weit ist.

Ein erfülltes Leben

In der Bibel gibt es den Psalmvers „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Unter Christinnen sagt man, wenn jemand geht: Ein Leben ist vollendet. Du hast all deine Kraft, Liebe und Kreativität deiner Familie und deiner Arbeit gewidmet. Und je länger ich über dein Leben nachdenke, desto mehr erschließt sich mir die Vollendung, auch wenn du viel zu früh gegangen bist: Du warst 25 Jahre mit deinem Mann Yussuf verheiratet. Er war dein Lebensmensch und bis zur letzten Minute bei dir. Du schickst zwei wunderbare Kinder in die Welt. Du hast mit deiner Arbeit Preise gewonnen und am 7. März 2024 noch mit Freundinnen deinen 55. Geburtstag begangen, über den du bei unserem letzten Gespräch zu mir am Telefon gesagt hast: Es war sehr schön!

Meine liebe Leslie, du warst so besonders wie dein Name. Ich habe nun niemanden mehr, den ich am 9. November anrufen und zum Mauerfall-Jubiläum gratulieren kann. Am liebsten würde ich wie damals in den Nebenraum rufen: Leslie, bist du noch da oder habe ich deinen Tod nur geträumt? Vielleicht bist du nur in ein anderes Zimmer gegangen und gar nicht weit weg, sondern nur auf der anderen Seite des Weges.


Deine Cornelia, Berlin im März 2024

Meine Sendungen unter Leslies Redaktion

Die Schönheit der Männer – Aus der Sicht von Dichterinnen von Cornelia Saxe und Cornelia Sturm (WDR 2010)

„Jeder Satellit hat einen Killersatelliten“ – Stasi-Dichter im „Zirkel Schreibender Tschekisten“ von Cornelia Saxe (WDR 2006)

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